Die Erfindung der Wirklichkeit

Eine Steppenfantasie zum Ursprung unseres Durcheinanders - Nomadenhäuptlinge damals wie heute. Alkohol, Geschwindigkeit, Götter im Himmel, Territorium, eine Saga, die nach 5.000 Jahren langsam ermüdet.

Herbst 2023

Die Erfindung der Wirklichkeit – eine Steppen-Fantasie zum Ursprung unseres Schlamassels


Part One

Vielleicht …. 5.500 Jahre vor unserer Zeitrechnung.

Du sitzt in einer weiten Grassteppe, irgendwo in der Nähe des Ural-Gebirges. Es ist kalt. Über dir glitzern Millionen Sterne, so viele, dass du dich klein, unwichtig und erschlagen fühlst. Apropos erschlagen: Es ist etwas passiert. Vor ein paar Tagen bist du in Streit geraten. Über einer lächerlichen Kuh. Im Streit hast du deinen Bruder erschlagen (1), schlimm. Die Spannung, das schlechte Gewissen, machen dich fertig. So etwas passiert selten, und wenn es passiert, sind die Folgen schrecklich. Du trinkst vergorene Stutenmilch, du fürchtest dich, und du trinkst noch ein wenig mehr.

Die Sterne beginnen zu tanzen, mit dir zu sprechen. Immer schon warst du hingezogen zu ihnen, immer schon hast du dir Geschichten ausgedacht – zu diesem großen, fernen Reich aus Licht und merkwürdigen Mustern. Das Trinken tröstet dich, die Sterne trösten dich. Sie sprechen – fast, du kannst, wenn du dich konzentrierst, wenn du noch einen Schluck trinkst, verstehen, was sie sagen.

Der Bruder erschlägt den Bruder. Ist das schlimm? Nein. Dieser Bruder (du!) war stärker. Dieser Bruder hat gesiegt.

Dein Brustkorb weitet sich, du starrst hinauf. Ja, versichern die Sterne, du bist – ein Held. Du hast deinen Bruder gegeben – geopfert. Uns geopfert. Wir danken dir dafür. Wir werden dich mit Macht ausstatten. Wir werden deinen Bruder – zerstückelt, in einem heldenhaften Furor – zu deinem Volk machen. Wir machen Häuptlinge – wie dich – aus seinem Kopf.

Du lächelst. Diese Version der Wirklichkeit gefällt dir. Du – kein Opfer des Stammeszorns, sondern ein Held. Mächtig. Angsteinflößend. Der Mord, keine Sünde, sondern eine geheimnisvolle Tat mit dem Segen der Sterne, der himmlischen Wesen, der Väter (so viel freundlicher!), der Himmelsväter(2). Du kannst sie hören, du kannst mit ihnen sprechen, sie beschützen dich, sie verleihen dir Macht. Du trinkst. Du bist stolz. Du wirst es ihnen zeigen. Du bist Manu, der erste Mann.  (3)


Part Two

3.500 vor unserer Zeitrechnung.

Gemeinsam mit deinen Brüdern, deinen Verbündeten, deinen zuverlässigsten Vertrauten, schleichst du durch die weite Steppe. In der Ferne hört ihr das Schnauben der Tiere. Ihr macht kein Geräusch, ihr seid Helden, ihr seid Viehdiebe. Ihr stehlt von den anderen, euren Feinden. Ihr opfert die erbeuteten Tiere, eure Götter werden zufrieden sein.

Ihr werdet von eurem Stamm geehrt werden, ihr werdet trinken, berauscht sein, ihr seid Helden – Söhne von Trito (4). Niemand in eurem Stamm braucht diese Tiere wirklich, niemand hungert. Große Herden sind Status. Hohe Brautpreise sind Status. Viele Söhne sind Status und Sicherheit – wem könnte man sonst sein Leben im Kampf anvertrauen? Tiere züchten, Söhne gebären, die große Zahl, die Größe, mehr, mehr.

Eure Frauen sind Mütter, gebunden an die Zelte, Konkubinen, Sklavinnen. Sie stehlen kein Vieh, manchmal werden sie beim Tod des großen Häuptlings geopfert, wie Pferde. Frauen, in dunklen Zeiten waren sie wichtig, so wichtig, dass Stunden an Feinarbeit in weibliche Figurinen (5) geflossen sind.

Jetzt nicht mehr. 


Part Three

3.200 vor unserer Zeitrechnung.

Pferde machen schnell. Überfälle werden einfach. Mythen reisen schnell, Mythen bauen neue Welten. Friedlichere Siedlungen in Südosteuropa, im Donaudelta, verschwinden plötzlich. Große Hügelgräber von großen Helden wandern nördlich, abertausende von Kurganen mit Grabbeigaben werden gefunden. (6) Metall wandert, scharfe Waffen verändern die Welt. Alkohol, der gemeinsame Rausch, bindet in Zeiten, wo vertrauensvolle Bindung durch Gewalt zerschnitten wird. (7) Metall verändert die Stammesstrukturen – nur mehr Wenige wissen, nur mehr Wenige haben die Macht, Gestein in harte, scharfe Klingen zu verwandeln.

Die Wirklichkeit verändert sich. Die Sprache verändert sich – es gibt neue Wörter für Konzepte, für Beziehungen, die noch nie da gewesen sind, Wörter wie Gott, Eid oder Gast/Geist. Es gibt Schirmherren, Patrone, die Unterlegenen Schutz anbieten. Es ist einladend, diesen Schutz anzunehmen, wenn die Alternative ein eingeschlagener Schädel ist. Häuptlinge konkurrieren mit immer größeren, berauschenderen Begräbnisfesten, mit immer mehr Opfertieren, um Untertanen, um Söldner anzuwerben. Ausgefeilte Befestigungsanlagen tauchen auf. Die Sprache reist und baut eine neue Welt – für uns und gegen die Anderen. Sie erzählt von unserem Land und dem Land der anderen. Die Menschen rüsten auf, die Sprache rüstet aus. 

Grenzen, die gewaltsame Ausdehnung von Territorium, eine neue Wirklichkeit. Reichtümer für Wenige, eine neue Wirklichkeit. Keulen, die anders als Messer und Äxte nur einen Zweck haben: Menschen, Feinde zu töten. Eine schreckliche Wirklichkeit, verdreht. 


Part Four

2023, jetzt.

Alles ist geblieben, ganz knapp unter unserer millimeterdünnen Schicht aus Zivilisation. Der Häuptling, der Alkohol für eine Lösung hält. Die einen, die die anderen abschlachten – Männer, Frauen, Kinder, Schwangere, in einem bestialischen Gemetzel. Die anderen, die ihre Weidegründe rücksichtslos ausweiten und ausdehnen. Der Große Häuptling mit seiner Leibgarde, der nach dem Nachbarterritorium giert.

Die Keulen, jetzt ferngesteuerte Marschflugkörper, Drohnen. Die listigen Viehdiebe, die Hotels kaufen und verkaufen (und am Ende untergehen). Die Nachfahren der schnellen Pferde, die mit Überschallgeschwindigkeit die Atmosphäre verpesten. Die Handelsrouten, die Schätze für die Eliten bewegen. Die Steppe, aus der unsere Geschichte kommt, die Agrarsteppen, die Asphaltsteppen. Die grimmige landwirtschaftliche Förderung von Fleisch und Milch. 

Der unbedingte Hunger nach mehr – mehr Status, mehr Reichtum, mehr Raum, auch wenn wir schon mehr als satt sind. Die Seilschaften, die Adlerrunden, für die Söhne. Die alkoholgetränkten Initiationsriten der jungen Männer. Die Mütter, Tradwives (8), die die Herrschaft der Söhne weiter festigen. Die Frauen in den Zelten, fern der Macht. Die vergewaltigten, die getöteten Frauen, die geopferten Konkubinen.

Die Mythen, das Netz der Erzählungen, der Wahrheiten und der Lügen, ausgestülpt über Alle und alles in jeder Sekunde, in Nullen und Einsen. Die Himmelsväter Gott/Jahwe/Mohammed, einsam in den Sternen, nach ihrer vergangenen Größe gierend. Ihre Jünger, die das Märchen von den „Anderen“, den Ungläubigen, seit über 6.000 Jahren lebendig halten. Hypnotische Erzählungen von Kindheit an, Adam und Eva, Kain und Abel, Gott und Teufel, Beziehungsmuster voller Gewalt und Tücke, getarnt als die eine, die einzige Wirklichkeit. 

Die kranke Einsamkeit in einem weiten All. Die armen kleinen Steppennomadengeister, die nun wirklich wissen, wissenschaftlich bewiesen, wie unendlich, feindselig und kalt dieses All ist. Die armen kleinen Nomadengemüter, auf die der gesamte entfesselte, auf die Spitze getriebene Mythos vom Helden, vom Viehdiebstahl, von Masse und Wachstum, vom Bösen, vom Feind, von Status und Hierarchie, von Reichtum und Territorium, von Waffen und Atom-Tod, auf die dieser Mythos in seiner gesamten Schrecklichkeit und seiner gesamten Schönheit hereinbricht. 



Wir.



Kein Wunder, dass so viele aussteigen, sich panzern, bewaffnen, um sich schlagen. Kein Wunder, dass wir uns täglich wundern über die absurde Gleichzeitigkeit von höchster Intelligenz, Schönheit, Fürsorge – und unvorstellbarer Grausamkeit und Hartherzigkeit. Kein Wunder, dass wir überall Mauern hochziehen, getrieben von panischer Angst. 

Ein Wunder, dass so viel funktioniert. Ein Wunder, dass wir in so kurzer Zeit so viel gewendet haben. Ein Wunder, dass Männer wie Harvey Weinstein und Jeffrey Epstein angeklagt und eingesperrt wurden – für etwas, das 5.000, 6.000 Jahre lang normal war.

Ein Wunder, dass wir in so kurzer Zeit so viel über Schmerz und Trauma gelernt haben, und Heilung dafür erfinden. Ein Wunder, dass es die Vereinten Nationen gibt. Ein Wunder, dass sofort nach schrecklichen kriegerischen Ereignissen reflektiert, geforscht, nach bestmöglicher Unterstützung gesucht wird.

Ein Wunder, dass es so viel Bemühen um Frieden, um Kinder und Alte, um Bildung, um Gerechtigkeit, Naturschutz, Artenvielfalt, gegenseitiges Verständnis, Schönheit, Forschung gibt. Ein Wunder, dass das Wissen des gesamten Planeten zusammen getragen wird, frei und für alle zugänglich.

Wir erinnern uns – vielleicht – an eine Zeit des Zusammenhalts. Wir erinnern uns an ein Zusammensein, als wir Wenige waren und einander gebraucht haben. Wir erinnern uns an kleine Siedlungen, mit Häusern, die in etwa gleich ausgestattet waren, ohne große Statusunterschiede. An ein Teilen und Verteilen.

Wir erinnern uns an Zehntausende von Jahren, wo wir nicht schnell, nicht bewaffnet, vielleicht nicht berauscht waren. An langsame Wanderungen durch und mit der Natur, an die Grenzen von Ressourcen, an das Wissen um Tragfähigkeit. Wo unsere Geschichten andere waren. Wo unsere Träume anders waren, nicht einsam dem Schrecken ausgeliefert, sondern vielleicht eingebettet in helfende Stammes-, und vielleicht sogar Stadtstrukturen. (9)

Viele, viele zehntausende Jahre –  so viel länger als die winzig kurze Zeit unserer steppennomadischen Verwirrung. Wir können niemals zurück in eine imaginierte heilere Welt. Aber wir können unsere Krankheit, unser einsames Trauma verstehen lernen, und eine Zukunft denken und erarbeiten, aus unserem gesamten Erbe.

Wir können die engen Grenzen der Geschichten von Göttern und Mord, von Krieg und Opfern, durchschauen und überwinden. 

Heute, wenn sich die betrunkenen Häuptlinge, behängt mit Ketten, mit Keulen um sich schlagend, aufbäumen, erkennen wir genauer, was passiert. Wir verschwenden unsere Energie nicht an moralische Entrüstung und schlaue und betroffene Gespräche am gemütlichen Esstisch.

Wir sehen und definieren den Unterschied zwischen Miteinander und Gegeneinander. Wir kennen den Preis, den wir für den einsamen, verheerenden Herrscher zahlen müssen. Wir brauchen vielleicht noch ein paar schreckliche Verluste, drastische Beweise, wie dysfunktional, wie zerrüttet, wie instabil unsere geistigen Strukturen sind. Wie verantwortlich die Mythen und Geschichten, die Lügenkonstrukte, die wir von einer Generation zur nächsten weiter geben. 

Wir können damit aufhören, den transgenerationalen Schrecken aus tausenden Jahren von Überfällen, Kriegen, Gewalt, an unsere Kinder zu vererben. Wir haben den Luxus der Wahl (noch), wir haben millionenfach die Wahl, Angst und Gewalt, die Anderen und die Grenzen, die Spaltung und das Drama zu denken. Oder wir denken Alles, mit Allen, sehen beide Seiten, alle Facetten, zum höchsten Wohler Aller.

In kleinen Sekunden, in vielen konkreten Handlungen, können wir immer neue Strukturen schaffen, die andere Strukturen anstecken. Kleine Strukturen oder große. Anerkannte oder geheime. Unbequeme und einfachere. Vegane und queere. Klimaschützend und vernetzend.

Hauptsache, wir verlassen die Fantasie, den Traum von der schönen, heilen, bunten Welt, wo alle märchenhaft in Frieden leben. Hauptsache, wir wachen auf, nehmen die Werkzeuge wirklich in die Hand, und bauen neu, auf alten Wurzeln. Hauptsache, wir machen uns an die Arbeit. Hauptsache, Frauen und Männer und alle dazwischen, erkennen, dass wir nur gemeinsam, miteinander, ein Ende der Gewalt verwirklichen können.


Eigentlich logisch. 

 



Zum Weiterforschen:

(1) Der Mythos von Manu und Yemu, rekonstruiert aus den Nachfolgesprachen des Proto-Indoeuropäischen https://en.wikipedia.org/wiki/Indo-European_cosmogony 

(2)   Dyḗws Ph₂tḗr der Tageslicht-Himmel-Gott

(3)  https://en.wikipedia.org/wiki/*Manu_and_*Yemo

(4) Trito, der Dritte, der schlaue Erfinder des legitimierten Viehdiebstahls, und auch die böse Schlange kommt schon vor https://en.wikipedia.org/wiki/*Trito#Serpent-slaying_myth

(5) Über 300 Frauenfigurinen aus der Vorzeit wurden in ganz Europa bis Russland gefunden . Der Begriff Venus wird heute in Frage gestellt, da viele Frauen im reiferen Alter dargestellt wurden.

(6) Die Forschungen von Marija Gimbutas zum Wandel von der offenbar friedlicheren Welt eines alten Europa in eine neue Welt der Überfälle, der Waffen, der berittenen Nomaden, sind im letzten Jahrhundert scharf kritisiert worden. Mittlerweile scheinen sich einige ihrer Theorien zu bewahrheiten, wenn auch nicht in vollem (mystischen) Umfang einer von ihr angenommenen großen Göttin. 

(7) Anscheinend wurden in der bronzezeitlichen Steppe große Mengen Alkohol aus einem großen Gefäß mit Trinkhalmen getrunken. 

(8) Tradwives sind Frauen, die entschieden an der Rolle der Frau-im-Zelt festhalten, 

(9) Die Hazda träumen anders als wir – offenbar angenehmer.

 

Die Anregungen für diesen Text stammen von:
David B. Anthony, The Horse, the Wheel and the Language
Marija Gimbutas, The Language of the Goddess
Und die nomadischen Fantasien habe ich Mary Mackey entliehen: Das Jahr der Pferde, Die Schmetterlingsgöttin und Das Lied der Erde, eine Trilogie, die die Forschungen von Gimbutas in drei Romane gepackt hat. 

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