Hysterisch, beleidigt, oder lieber tapfer?

Geschichte lernen! Nicht alle Nachrichten glauben :) Es war oft schon viel, viel schlimmer, und wir haben ungeheure Kräfte und Ausdauer. Was sprechen wir an?

Herbst 2023

Hysterisch, beleidigt, oder tapfer?

Jetzt wird ein bissl  eingeschenkt. Weil:

Ja, es ist schlimm.
Vielen Menschen geht es wirklich nicht gut.
Die Wettererscheinungen dieses Sommers sind nicht sehr ermutigend.

Buben mit zu viel Macht verwenden sie auf blöde Weise.
Superreiche (und -reich-innen) (muss man gendern) können eine Riesenwut zu ihrem unbekümmerten CO² Verbrauch auslösen.

Viele Arten verschwinden. Humus auch. Plastik wird mehr.
KI ist ein sehr verunsicherndes Werkzeug.
Undsoweiter.

Jetzt aber – Bitte!

 


Was wir schon alles ausgehalten haben

Wir sind die Spezies, die erstaunlicherweise die geistige Kapazität hat, die persönlichen, gemeinschaftlichen und seit Neuestem gesamt-global-speziesistischen Ereignisse wahr zu nehmen und zu reflektieren.

Wir erleben bewusst unsere Gefühle und Schmerzen, können sie mit Sprache beschreiben, uns Geschichten und Ursachen (Götter, Sünde, Strafe, Kapitalismus) dazu auszudenken und weiter geben. Fürderhin ersinnen wir Konstrukte, um diese Katastrophen zu vermeiden (Opfergaben, Gebote, Geo-Engineering). Dabei scheitern wir (natürlich) und geben nie und niemals auf. Offenbar, sonst wären wir nicht mehr da.

Wir hätten uns in den 100.000enden Jahren unseres Daseins schon so oft einfach hinlegen und aussterben können. Oder?


Zum Beispiel deshalb (Katastrophen-Trigger-Warnung):

In vielen einzelnen Sippenschicksalen, wo Löw*innen die halbe Verwandschaft er- und zerlegten.
Als ganze Stämme fast ausstarben, weil wegen Hungersnöten kaum mehr Kinder auf die Welt kamen.

Nach dem Vulkanausbruch im Eiffelland vor 13.000 Jahren, als weite Teile Europas in Asche und Finsternis versanken.

Wie die Sesshaftigkeit auf einmal Kriege, Waffen, Besitz und Mord hervor gebracht hat.
In Spanien zum Beispiel, wo die Reiter der Jamnaja-Kultur aus Zentralasien – wie auch immer – dafür gesorgt haben, dass sich nur mehr ihre männliche DNA fortgepflanzt hat, und nicht die der bis dahin ansässigen Männer.

Wie die starken Frauen langsam aus Bilderwelt und Öffentlichkeit verschwunden sind.
Als die frühen Christen die interessanteren Aspekte von Lebenslust, Sexualität und Vielfalt der antiken Völker nach und nach in den geistigen Käfig der einen einzigen Wahrheit sperrten

Als die missionierenden (aber eigentlich landraubenden) Seefahrer von Europa aus die ganze Welt eroberten und wieder Vielfalt und Verbundenheit mit der Natur ….
Als Wellen von Pest unseren Kontinent überzogen haben und zB. im 14. Jahrhundert ein Drittel der Bevölkerung starb.

… der dreißigjährige Krieg Monstersöldner, Schrecken und sinnlose Schlachten gebracht – und nicht und nicht aufgehört hat.
Als Frauen (und Männer, und Katzen) als Hexen und Geschöpfe Satans verbrannt wurden.

Als graue, giftige Industrien viel zu kleine Kinder in 16-Stunden-Arbeitstage gezwungen haben.
… in den Schützengräben Frankreichs und europaweit munter mit neuartigen Gasen und Luftangriffen experimentiert und eine Generation junger Männer in tiefe Traumata gestürzt wurde.

Als unsere (Ur)Großeltern hier in unserer deutsch-österreichischen Heimat in einen rassistischen Wahn verfielen und ein höllisches industrielles Morden ersannen und ausführten – vor den Augen der ganzen Welt.
Als – besonderer Zynismus – die Atombombe abgeworfen wurde, um Frieden zu bringen.


Diese Liste ist höchst unvollständig und wird fortgesetzt – sicher.

Wir leben mit, in und durch Katastrophen, seit jeher. Was immer bisher geschah, die Überlebenden haben sich umgeschaut, ihre Kräfte zusammen gekratzt, zusammen gehalten, irgendwie, und weiter gemacht.

Kaum waren vor ein paar Wochen die Fluten weg, waren unsere lieben Freunde in Slowenien, in Škofja Loka, damit beschäftigt, ihren Mitmenschen zu helfen und Schlamm zu schaufeln. Sie haben sich in der Not verbunden gefühlt und weiter gelebt. Sie erleben Freude, mitten im Chaos. Sie essen, schlafen, lieben, kümmern sich um ihre Kinder. So wie wahrscheinlich wir alle sicher die eine oder andere persönliche Katastrophe in unserer Vergangenheit bewältigt haben.


Wir halten eine Menge aus.

Wir möchten nicht gerne, aber wie oft in unserem Leben haben wir keine Wahl? Wir halten Krisen durch, solange wir können – und wenn wir gar nicht mehr können, lassen wir los und gehen. Heim, in den Himmel, den Humus, das Feuer, das Wasser, wohin auch immer. Sterben ist vielleicht eine Rückkehr zu unserem Ursprung, ins Nichts, oder ein wichtiger nächster Schritt – wir haben keine Ahnung. Dass daraus so ein bodenloser Horror mit Strafe, Fegefeuer und Hölle geworden ist, haben wir wohl auch den Männern mit dem Kreuz zu verdanken.

Ich glaube, die bunte Wirtschaftswunderwerbewelt hat es erfolgreich geschafft, uns einzureden, wir hätten ein Recht auf Glück. Alle. Auf romantische Liebe, körperliche Unversehrtheit, körperliche Schönheit. Materiellen Reichtum! Der kitschig-künstlich unrealistische Idealzustand, die Karotte aus Film und Fernsehen, Insta und TikTok, wird als das eigentlich Normale wahrgenommen.

Wir genieren uns und leiden, wenn wir nicht jeden Tag rundherum optimal happy sind, wenn wir nicht unentwegt im Kreis glücklich rotweintrinkender Freund*innen opulente Mahlzeiten/Picknicke/Gartenfeste à la Jamie feiern. Wenn unsere Kinder nicht total entzückend (sondern kleine Gfraster) sind. Wenn wir nicht den absoluten Wahnsinns-internationalen-Selbstverwirklichungsjob haben. Wenn wir (Frauen) nicht den Wahnsinns-instatauglichen-thighgap-Körper haben. Wenn wir (ich) als Künstlerin nicht um die Welt jette und via Biennalen und documentas den ur-oagen Impact auf das Weltgeschehen habe. Wenn wir streiten, einsam, frustriert sind, Schmerzen haben und nicht mehr weiter wissen.

Wir wollen so viel! Wir wollen, dass es so weiter geht wie bisher! Wir wollen alle Sachen für wenig Geld, viele Reisen überallhin, alles gute Essen, schönes Gwand, stylische Wohnungen, Landhäuser! Gärten! Pools! und überhaupt. Sicherheit, Liebe, Glück und Befriedigung unserer Sehnsüchte! Für immer!


Beachte*:

  • Es geht so vielen von uns gut – in den letzten 2.000 Jahren eine Seltenheit.
  • Noch nie haben wir in einer Art externen Gehirn global so exzessiv über unsere Befindlichkeiten herumgejammert.
  • Noch nie sind sexuelle Übergriffe von Mächtigen sichtbar gemacht worden und vor Gericht gelandet.
  • Noch nie haben so viele von uns so viel Zeit und so viel Geld für Freizeitspaß gehabt.
  • Noch nie haben Frauen, Kinder, einfach arbeitende Männer, so viele Freiheiten und Möglichkeiten gehabt.
  • Noch nie haben wir Zugang zu so viel Wissen gehabt – mit einem Klick.
  • Noch nie waren wir tendenziell so unzufrieden, ängstlich, leer und hysterisch – gemessen an unserem Wohlstand.
  • Noch nie wurde vom Staat, der Allgemeinheit so gut für den Einzelnen gesorgt.
  • Noch nie waren wir so beleidigt, weil wir nicht – 100%ig richtig – gesehen und gelesen werden.
  • Noch nie waren wir so VIELE!
*Alles für unsere kleine mitteleuropäische Welt angenommen. Alles unwissenschaftlich und hinterfragbar, natürlich. Alles mit allen Vor- und Nachteilen.

Die letzten beiden Absätze lassen auf ein ungefähres Spezies-Alter schließen. Will alles haben, jetzt – etwa zwei Jahre. Tobe hysterisch, wenn ich es nicht kriege – drei. Verbreite mich endlos und beleidigt über alles Unrecht, das mir angetan wird – hormonell beeinträchtigte 13 Jahre.


Die Tapferkeit kommt mit dem Geprüft-Werden und dem Krisen-Überstehen.

Wichtig: Wir sollten nicht tapfer sein. Wir sind bereits tapfer. Wir haben es in unseren Genen. Wir haben es generationenlang trainiert – seit es uns gibt. Kaum fällt die kleine oder große Welt zusammen, kommt eine unfassbare Energie. Wir stemmen und schaffen Dinge, die im gemütlichen Alltag unvorstellbar scheinen. Das Leben organisiert sich rund um Notwendigkeiten, das wissen alle, die Umzüge, Schicksalsschläge, Krankheiten, Baustellen, Todesfälle überstanden haben. Es geht alles, irgendwie. Es ist nicht lustig, aber wir können das.

Tapfer kann erwachsen machen. Ich wünsche mir, die Medien würden weniger auf die hysterischen Kleinkinder, die beleidigten Teenager, den Abgrund zwischen Ängsten und Wünschen, sondern mehr auf die tapferen Erwachsenen und die Wirklichkeit abzielen. Und damit unsere Kraft stärken. Wir kennen das aus dem Umgang mit Kindern: Du bekommst das Kind, das du ansprichst. Wie du es ansprichst. Mit wackeligen Gefühlen einem Dreijährigen hinterher dackeln – keine gute Idee. Zulassen, dass die beleidigte Teenager-Göre die Familie im Griff hat: auch nicht. Konkret, liebevoll und mit Grenzen, das funktioniert oft besser.

In meinen Kursen gehe ich davon aus, dass alle in der Lage sind, für sie stimmige Kunst zu machen. Ich zweifle nicht daran, dass das Miteinander respektvoll ist. Ich halte hoch, dass alle eigenständig sind, und mich eigentlich nicht brauchen – weil sie es selber schaffen können. Kunst aktiv zu betreiben ist ein hervorragendes und ganz pragmatisches Testfeld für Krisenmanagement. Für Ausdauer und Verpflichtung. Entscheiden zu lernen (Krise – κρίσις krísis im Altgriechischen – bedeutet unter anderem „Entscheidung“), Konsequenzen auszuhalten und flexibel zu werden. Beweglich.

Ich hoffe, dass all die vielen kleinen Zellen und Zellhaufen, die das tapfere Miteinander praktizieren, zu einem gesunden Organismus wachsen können. Ohne Plan, Konstrukte und Ideologien. Und wahrscheinlich dauert dieser Prozess sowieso viel, viel länger, als wir persönlich da sind – falls er je „gelingt“ (was immer das bedeuten würde). Wichtig für uns, für unsere geistige Gesundheit, scheint mir heute und jetzt, dieses gesunde, tapfere Wachstum überhaupt wahrzunehmen und zu stärken.


In der Zwischenzeit haben wir alle früher oder später Gelegenheit zu üben: Weil Altwerden und Sterben – die beste Schule für persönliche Tapferkeit!